Hier findet ihr Hier findet ihr den Aufsatz, den Scott und Hauke verfasst haben für das Buch:
Die so genannten Konfessionslosen und die Mission der Kirche, hg. von Ulrich Läpple und Voker Roschke,
Neukirchener Verlag Neukirchen-Vluyn 2007, ISBN 3788722576

3 x Vitamin B

"Berufen, Beziehung, Betrauen" im Jugendmitarbeiterprojekt 180° in Lutherstadt Eisleben (Sachsen-Anhalt)

Lutherstadt Eisleben liegt in Mitteldeutschland, in einer Gegend der ehemaligen DDR mit einer besonders geringen christlichen Bevölkerung (geschätzt zwischen 12% und 16% katholisch, evangelisch und freie Gemeinden zusammen). Für unsere Jugendlichen sind die Perspektiven düster. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, große Arbeitgeber gibt es nicht. Die meisten, wenn nicht alle unserer aktiven Jugendlichen werden in 10 Jahren wahrscheinlich nicht mehr in Eisleben sein. Wir sehen es als unsere Aufgabe an, junge Leute zum Dienst am Reich Gottes hier und jetzt anzuleiten, damit sie das in ihre zukünftige Heimat mitnehmen können.

180° ist ein verheißungsorientiertes, missionarisch angelegtes Jugendmitarbeiter-projekt, das seit 2003 von Hauptamtlichen und Jugendlichen gemeinsam entwickelt und 2004 von sechs Kirchengemeinden gestartet wurde. Mit dem von Jugendlichen vorgeschlagenen und abgestimmten Namen verbinden wir Gottes Möglichkeiten, Menschenleben zu verändern und umzukehren. Um die 20 Jugendmitarbeiter übernehmen Aufgaben in verschiedenen Teams der Kinder- und Jugendarbeit: Konfirmandenkurse, Kinderangebote, Bands, Organisation, Homepage. Den 20 Jugendmitarbeitern stehen etwa ebenso viele Konfirmanden gegenüber.

Im Zentrum von 180° steht die Idee, dass konfirmierte Jugendliche für und mit Jüngeren arbeiten. Diese Arbeit kann einen interessanten Raum für den Dienst der Konfirmierten schaffen und attraktiv und ansteckend sein für die, die wir zu gewinnen hoffen. Wir setzen dabei auf Events, Musik und Zeugnis, das Jugendliche für Jugendliche geben (angeleitet und ermutigt durch die drei beteiligten Hauptamtlichen).

Viele unserer Jugendlichen und Konfirmanden kommen aus nichtchristlichen Elternhäusern. Die Konfirmation hat deshalb bei uns eine anderen Stellenwert als in manchen ländlichen Gebieten Westdeutschlands, wo sie noch als selbstverständlich gilt. Die wenigen Konfirmanden sind oft die einzigen in ihrer Klasse, die zum Konfirmandenkurs gehen. Die Konfirmation wird als Entscheidung für den Glauben wahrgenommen und stößt deshalb manchmal auch auf Widerstand im Elternhaus oder im Freundeskreis.

Die Kinder, die sich heute für die Konfirmation interessieren, sind zwar alle nach der Wende geboren und haben die DDR aus eigenem Erleben nicht mehr kennen gelernt, aber die Vorurteile gegenüber der Kirche aus DDR-Zeiten wirken nach. So lehnen manche in der DDR sozialisierten Eltern eine Teilnahme ihrer Kinder am Konfirmandenunterricht (KU) ab und sind nicht bereit sich auf ein Gespräch einzulassen. Auch begegnen uns in Familien, die keine Verbindung zur Kirche haben, manche Vorurteile wie "Wer sich konfirmieren lässt, muss Kirchensteuern zahlen" und dergleichen. Andere Eltern hingegen stellen es ihren Kindern frei sich zum KU anzumelden, auch wenn sie selbst der Kirche fern bleiben.

Manchmal werden wir gefragt, wie wir die Konfirmierten und Jugendlichen vom Rand der Gemeinden gewinnen können, selbst aktiv Teil der Kirche zu sein. Die Antwort ist einfach: Es gibt einige grundsätzlich Elemente, um deren Anwendung wir uns immer wieder bemühen. Diese Elemente sind: Berufung, Beziehung und Betrauen. Zwischen diesen drei Elementen gibt es keine Hierarchie, sondern eine gegenseitige Abhängigkeit. Wenn bei diesem Dreifuß ein oder zwei Beine fehlen, kommt das Ganze aus der Balance.

Ebenso lässt sich kaum festlegen, wann welches Element dran ist. Es ist eher wie bei einem Wirbelsturm. Wenn einzelne von ihm erfasst und im Wirbelsturm ihres Lebens und des Dienstes in der Kirche herumgewirbelt werden, begegnen sie jedem der drei B's immer wieder. Der Wirbelsturm unseres Dienstes/Projektes bewegt sich und erfasst das Leben anderer in unserer Gegend. Diese Menschen werden hereingezogen
- dadurch, dass ihnen etwas zugetraut und die Möglichkeit geboten wird, sich einer verantwortungsvollen Aufgabe zu stellen,
- durch Beziehungen, die für Jugendliche besonders attraktiv und effektiv zu sein scheinen,
- und auch durch ein Gefühl, zu etwas Größerem als dem eigenen Leben berufen zu sein.


Berufen


Wir glauben, dass wir mit unserer Taufe (als Kind oder Erwachsener) und während unseres ganzen Lebens berufen sind. Und wir betonen das durch Verkündigung und Gebet, durch das Lob Gottes im Gottesdienst und durch die Musik und auch, indem wir uns punktuell den Bedürfnissen Jesu unter den Schwachen zuwenden. Wir sehen dadurch intensiv auf Gott, den Schöpfer, der uns gemacht und begabt hat, der uns liebt und in den Dienst ruft.

Wir erleben, dass wir in Schwierigkeiten geraten, wenn dieser Fokus abhanden kommt. Wir müssen dann von neuem die Bedeutung der Berufung betonen. Manchmal erinnern auch die Jugendlichen selbst einander und uns Hauptamtliche, dass alles, was wir tun und sind, auf Gott ausgerichtet sein soll. Das sind die schönsten Momente, wenn wir erleben, dass diese erstaunlichen Jugendlichen (und manchmal ihre Eltern) uns zu unserer ursprünglichen Berufung zurückrufen.

Als Pfarrer sprechen wir jede Konfirmandin und jeden Konfirmanden vor ihrer Konfirmation an, laden sie ein zur Mitarbeit bei 180° und sprechen davon, was wir uns für sie erhoffen. Wir suchen mit ihnen gemeinsam nach einer Aufgabe, die ihnen entspricht und die sie anzieht. Wir versichern ihnen, dass sie durch uns Hauptamtliche unterstützt und bei Bedarf weitergebildet werden. Bisher haben wir die Mehrzahl unserer Konfirmierten als Mitarbeiter begrüßen dürfen.

Wir betonen unsere Berufung zu einem Leben in christlichem Dienst und im Dienst in den Gemeinden auch durch formelle Einführung und Einsegnung der Mitarbeiter. In Gemeindegottesdiensten der jeweiligen Heimatgemeinden werden sie in den Dienst als Ehrenamtliche in der Kinder- und Jugendarbeit eingeführt bzw. gesandt. Die Einsegnung findet dann für alle gemeinsam im Rahmen des Gottesdienstes bei der jährlichen 180°-Party statt, zu der die Trägergemeinden, Eltern und Freunde eingeladen werden. Dabei werden die Mitarbeiter aus Gottes Wort ermahnt, befragt, ob sie in diesem Dienst mitarbeiten wollen, es wird für sie gebetet und sie werden unter Handauflegung durch Pfarrer, Mitglieder der Heimatgemeinde und ältere Jugendmitarbeiter gesegnet.

Beziehung

Wir glauben, dass uns der Glaube an Jesus Christus zu einer Gemeinschaft zusammenführt. Deshalb setzen wir Hauptamtlichen bewusst Zeit und Energie dafür ein, Beziehungen zu unseren Mitarbeitern aufzubauen und zu pflegen. Das gilt natürlich auch für Jugendliche in der Umgebung, denen wir dienen und die wir erreichen wollen. Wir bemühen uns, dass die Jugendlichen erleben, wie wir auf gute Weise miteinander umgehen können. Wie wir untereinander Beziehungen gestalten verstehen wir als Beispiel, dass Gott sich jedem einzelnen Menschen vertrauensvoll zuwendet.

Wir haben einige Elemente von "Peer Ministry" vermittelt in der Hoffnung, Fähigkeiten der Jugendmitarbeiter zu entwickeln oder entdecken, mit denen sie Gleichaltrige in der Schule oder während der Freizeit erreichen können. Wir bemühen uns auch, eine gastfreundliche Umgebung in unseren Räumen zu schaffen, etwa durch stimmungsvolle Beleuchtung, (natürlich nichtalkoholische) Getränke und Sitzkissen statt Stühlen.

Als Pfarrer betonen wir die Teilnahme an der Jungen Gemeinde als einer Zeit zum Auftanken in der Woche und an besonderen Veranstaltungen, aber besonders die Teilnahme am Gottesdienst in Eisleben oder anderswo. Das heißt, die Jugendlichen zu ermutigen, am Sonntagmorgen früh aufzustehen und am Gottesdienst teilzunehmen. Wir suchen auch bewusst Wege, sie im Gottesdienst aktiv werden zu lassen (Begrüßung, Lesungen, Tontechnik, Austeilung des Abendmahls, Anspiele, Dialogpredigten, besondere Musik, Kirchencafé). Seit dem Start von 180° kommen spürbar mehr Jugendliche zum Gottesdienst (obwohl die Musik selten zu ihrer Zufriedenheit ist). Sie wissen um die Bedeutung der um Christus gesammelten Gemeinschaft. Sie geben sich Mühe. Wir haben Raum für Wachstum, was ihren Gottesdienstbesuch angeht. Wir haben vor allem Bedarf für Wachstum, was die gemeindliche Akzeptanz ihrer ungewohnten Gegenwart im Gottesdienst am Sonntagmorgen betrifft. Manchmal akzeptieren Gemeindeglieder die Teilnahme der Jugendlichen nur, wenn sie etwas als Gruppe zum Gottesdienst beitragen, etwa durch Anspiel, Band oder Chor. Das ist natürlich ironisch, wenn man bedenkt, dass sehr wenige Erwachsene bereit sind, den Gottesdienst auf diese Weise zu bereichern und dass die Aufgaben im Gottesdienst von lediglich einer Handvoll Gemeindegliedern getragen werden. Unsere Aufgabe bleibt es, für bessere Beziehungen besonders zwischen den Jugendlichen und der "Erwachsenengemeinde" zu arbeiten.

Betrauen

Wir glauben, dass programmatische Arbeit als Rahmen wichtig ist, in dem beziehungsorientierte Arbeit stattfinden kann. Programme um ihrer selbst willen oder um Jugendliche einfach zu beschäftigen, halten wir der Mühe nicht für wert. Jedes Teilprojekt muss neue Kontakte ermöglichen oder neue Dienstbereiche erschließen. So haben wir neue Jugendliche gewonnen etwa durch die Bandarbeit oder durch das Homepageprojekt - darunter auch einige, die bisher in ihrem Leben überhaupt keine Verbindung zum Glauben hatten. Häufig sind es Freunde derjenigen, die schon bei 180° mit dabei sind.

Wir denken lange nach und fragen Gott im Gebet, wie wir jeden einzelnen neukonfirmierten, neugetauften oder neugewonnenen Mitarbeiter in die Arbeit von 180° integrieren können. Wir bemühen uns, einen Platz für jede und jeden zu finden, an dem sie ihre Begabungen einbringen können. Wir bemühen uns, auch offen dafür zu sein, wo der Heilige Geist unsere Vorhaben durch die Gaben neuer Mitarbeiter verändert.

Besonders achten wir darauf, dass die Jugendlichen bei ihren Aufgaben mit wirklicher Verantwortung betraut werden. Unsere Überzeugung ist, dass Jugendliche nur in den Gemeinden bleiben wollen, wenn es auf ihren speziellen Beitrag wirklich ankommt, wenn sie etwas beitragen, das nur durch sie geleistet werden kann. Die Arbeit mit jüngeren Jugendlichen bietet sich dafür besonders an.

Die Jugendmitarbeiter werden von den Gemeinden und Pfarrern mit wichtigen Aufgaben betraut. Jugendmitarbeiter im Konfirmandenkurs stehen durch ihr pures Engagement nach der eigenen Konfirmation bereits für den Glauben ein. Aber wir trauen ihnen auch zu, wichtige Impulse während der Konfizeit beizutragen. Es ist gut und wichtig, dass sie auch ohne den Pfarrer Konfirmandenstunden leiten.

Bandmitglieder singen und sprechen von der Bühne und durch das Mikrofon von ihrem Glauben. Das erfordert viel Mut und wird dadurch gefördert, dass Bandmusik ein Herzstück der heutigen Jugendkultur ist.

Wer sich zu einem solch öffentlichen Bekenntnis (noch) nicht in der Lage fühlt, kann Aufgaben im Organisationsteam oder im Homepageteam übernehmen. Dort ist es für neue Mitarbeiter auch leichter einzusteigen.

In einem zwischengemeindlichen Ausschuss mit Vertretern der Trägergemeinden, Jugendmitarbeitern aus jedem Team und den Hauptamtlichen können Jugendliche auch an den finanziellen und strukturellen Entscheidungen teilnehmen und so die große Richtung von 180° mitbestimmen.

Die Hauptamtlichen versuchen, so gut wie möglich Kontakt zu den einzelnen Teams zu halten. Natürlich aber sollen die Teams Selbstbestimmung üben und lernen, sich selbst Ziele zu setzen. Manchmal müssen wir mit einem Wort der Ermutigung oder einem festen Wort der Herausforderung oder Ermahnung eingreifen, wenn wir sie zu weit von Berufung oder Beziehung abkommen sehen. Aber diese Verantwortlichkeit ist keine Einbahnstraße und passiert sicher nicht von oben nach unten. Unsere Jugendlichen sind oft in der Lage zu sagen, was sie brauchen. Um nur einige Beispiele zu nennen: mehr Singen oder mehr Inhalt in der Jungen Gemeinde; andere Lieder in der Band; bessere Wege, den Glauben an die Konfirmanden weiterzugeben; Seelsorge für sich oder andere; Ideen, um Jugendliche in Eisleben zu erreichen. Manchmal arbeiten wir mehr für uns selbst als für andere. Dann sind wir wieder zu ehrgeizig und versuchen zu viel. Gelegentlich müssen wir bremsen und allen eine Pause geben, um Burnout zu vermeiden.

Haben wir mit diesen drei B's Erfolg? Natürlich. Es sind sicher keine Massen, aber es kommen kontinuierlich Einzelne hinzu. In drei Jahren haben Menschen den Weg zu Gott gefunden und sich taufen lassen. Das kirchliche Engagement Jugendlicher ist ernorm gestiegen. Wir sind als Gemeinschaft stärker. Bei größeren Veranstaltungen und durch das Forum auf der Homepage gewinnen wir Kontakte zu Konfessionslosen und zu Jugendlichen, die am Rand der christlichen Gemeinde sozialisiert sind. Die Arbeit von 180° ist unter den Jugendlichen in Eisleben gut bekannt. Natürlich hoffen wir auch auf ein stärkeres zahlenmäßiges Wachstum in der Zukunft, aber wir wissen, dass dafür Geduld nötig ist.

Berufen, Beziehung, Betrauen: wir versuchen, das alles bei 180° zu tun. Wir erleben große Freude und Erfolg genauso wie Schmerzen und Fehlschläge. Von allem lernen wir und wachsen miteinander. Wir vertrauen dem Heiligen Geist, dass er diese Erfahrungen annimmt und segnet. Und wir beten, dass er die Jugendlichen, denen wir dienen, segnet, so dass sie ein Segen und ein geistlicher Sauerteig werden können, wo auch immer sie einmal sein werden.

Scott A. Moore und Hauke Meinhold sind Pfarrer in Lutherstadt Eisleben. 2005 wurden sie vom EKD-Ratsvorsitzenden Bischof Huber für ihr Projekt 180° beim AMD-Förderpreis "Fantasie des Glaubens" mit dem 1. Platz ausgezeichnet.